Wichtelette IV: La Strada

Wir wichteln LPs. Es ist so aufregend, nicht zu wissen, von wem die Post kommt und ob man sich über die Vinyl freuen wird. Ich konnte mit meinem Geschenk immerhin zum Lachen bringen. Das von meinem Wichtel ist eher zum Weinen.

Filmmusik! Das hätte ich nicht erwartet. Aber es passt, denn das Paket kommt von Nina. Vielleicht hat sie sogar versucht, das zu verschleiern. Der Karton selbst verriet nämlich nichts. Der Post-Kleber aus ihrem Quartier dagegen schon. Und dann erst der Duft. Es riecht angenehm. Nach Zedern, glaubs. Auf jeden Fall nach Nina. Ich rieche immer, wenn sie das Gebäude betreten hat, in dem wir arbeiten.

Aber zur Platte. Es ist die Filmmusik zu “La Strada”. Ein Klassiker von 1954 des italienischen Regisseurs Federico Fellini. Das passt, weil Nina und ich uns immer wieder das Leid klagen zu unseren Italienischkursen. Dass wir mit Abstand die Besten sind in unserer Gruppe, leider aber keinen Satz sagen können, weil wir weder Wörtli noch Verben lernen.

Jetzt zwingt sie mich, in die italienische Kultur einzutauchen. Ich höre mir die Platte an, oder zumindest die ersten paar Stücke. Sie sind instrumental, orchestral, ein paar Melodien sind eingängig, andere klingen nach Zirkus. Was soll ich dazu schreiben? Ich weiss nicht. Es ist offensichtlich: Nina will, dass ich weitergehe. Ich muss den Film schauen. Er ist auf Youtube in voller Länge. Mit englischen Untertiteln. Zum Glück.

Und ja, damit hat sie mich. Die schwermütigen Schwarzweiss-Aufnahmen, die Ästhetik des italienischen Neorealismus, mit dem Regisseure dem faschistischen Regime getrotzt haben, und die Musik von Nono Rota, der, wie es auf der Platte heisst, eine “Alchemie zwischen Sound und Bild” entstehen lässt, können mich nicht gleichgültig lassen.

Ebensowenig die Geschichte um die junge Gelsomina. Sie hat – so sagt man ihr – ein Gesicht wie ein carciofo (eine Artischocke). Und die Mutter verkauft sie aus Not an einen viel älteren Schausteller. Sie zieht mit ihm umher und assistiert bei seinen Auftritten. Er behandelt sie schlecht. Doch obwohl sie die Möglichkeit hat, anderswo unterzukommen, bleibt sie bei ihm. Bis schlimme Dinge passieren und er sie zurücklässt und alles noch viel tragischer wird.

Um den Film zu beschreiben, bediene ich mich kurz einem Feuilleton-Jargon: Er verhandelt in einfachen Schwarzweiss-Bildern mit einer gradlinig erzählten Geschichte die Armut und Not der Menschen im faschistischen Italien, die abgrundtiefe Einsamkeit, Abschied und Tod, Fragen nach Zugehörigkeit und nicht zuletzt nach dem Sinn des Lebens. Obwohl er in einer uns etwas fremden Ästhetik daherkommt, verliert er durch die Themen nicht an Aktualität. Die Filmmusik unterstreicht diese grossen Fragen. Die herzergreifende leitmotivische Melodie begleitet die Hauptfigur und ist entscheidend für die Handlung des ganzen Films und rührt zu Tränen, um es wieder etwas plumper zu sagen.

Nachdem ich “La Strada” gesehen habe, lasse ich die Platte jedenfalls gern laufen, atme Ninas Zedernduft ein und denke daran, dass ich im nächsten Italienischkurs mit meinem Wissen über den Film bluffen kann. Ich muss ja zeigen, dass ich die Beste bin dort.

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