Es gibt ja zwei Arten von Amerikaner (wie überhaupt alles in Amerika zweimal vorkommt, einmal erträglich, einmal unerträglich): Die kakophonen Amerikaner, vertreten von Trump, und die introspektiven Amerikaner. Julia Holter, die Avantgarde Popmusikerin aus Los Angeles, gehört zur zweiten Gruppe. Unter der kakophonen Sorte Amerikaner leidet Julia Holter selber ganz besonders. Wenn es ganz schlimm wird, geht sie jeweils ins Studio für eine kathartische Aufnahmesession.
Ursprünglich bedeutete kathartisch den Körper von unerwünschtem Material zu säubern. Heutzutage wird der Ausdruck auch benutzt, um ein emotionales Loslassen oder eine spirituelle Reinigung zu beschreiben. Eine Stunde vor ihrem Konzert in Zürich treffe ich Julia Holter für ein Interview. Sie ist in die Schweiz gekommen, um ihr aktuelles Album “Aviary” vorzustellen. “Wenn du über dein neues Album sprichst, verwendest du oft das Wort kathartisch. Was ist genau das unerwünschte Material, von dem du dich reinigen willst”, frage ich sie als erstes.
“Ich weiss es selber nicht genau”, sagt Julia Holter. “Für dieses Album habe ich mich selbst beim Improvisieren aufgenommen und dann meine neuen Lieder ausgehend von diesen Improvisationen geschrieben. Während ich improvisierte, fühlte ich mich ekstatisch, irgendwie hypnotisiert und ‘im Jetzt’. Es fühlte sich auch therapeutisch an. Aber therapeutisch ist eigentlich das falsche Wort, weil es intensiver war als das. Das Improvisieren brachte mich in irgendeinen Raum. Einen Raum, gemacht für mich.”
Wie Julia Holter selber in einem früheren Interview sagte: Manchmal findet sie es schwierig, sich gut auszudrücken. Manchmal findet sie überhaupt das Kommunizieren schwierig. Julia Holter ist eine eher scheue Person, leicht nervös, wenn sie mit Fremden spricht. Und trotz ihres Erfolgs bei den Kritikern und beim Publikum fühlt sie sich nicht immer sehr selbstsicher. Bei einem Interview mit Julia Holter bekommt man keine vorgefertigten Antworten. Sie ist eine Suchende, die jede Aussage zuerst ergründet, in Betracht zieht, wägt und dann formuliert. Für eine bescheidene, unangeberische Person wie Julia Holter ist auch “Ich weiss es nicht” eine mögliche Antwort.
Julia Holters Aufnahmen sind eine mutige und einzigartige Mischung aus experimentellen Klängen und familiären Melodien. Alles basiert auf ihrem tiefgehenden Verständnis für die Geschichte der Musik, sei es Pop oder Jazz. Auf “Have You In My Wilderness”, ihrem Album von 2015, setzt Julia Holter Streicher ein, die sich wie eine sanfte Kamerafahrt über die Gegenstände in einem Doku-Geschichtsfilm anfühlen; Gegenstände, die einmal jemandem etwas bedeuteten und heute niemandem mehr gehören. “Aviary” aus dem letzten Jahr ist voll von instrumentalen Abschnitten, bei denen die Hörer mit ihren Gedanken alleine gelassen werden. Was ist es genau, das mich an der Musik von Julia Holter fasziniert? Es ist die Sehnsucht, die sie vermittelt. Die Sehnsucht nach einem schönen Traum.
Wie spielt Julia Holter ihre Musik live? Überraschenderweise sehr nahe an den Studioversionen. Ihre Band (bestehend aus einem Perkussionisten, einem akustischen Bass, Synthesizer und Keyboards sowie Geige und Trompete) schafft es ausgezeichnet, den E-Pop zu bieten, für den das Publikum gekommen ist. Die gestopfte Trompete, gespielt von Sarah Belle Reid, tönt wunderbar, besonders in einem Duo (“Voce Simul”) mit Julia Holter, die dabei singt und Keyboards spielt. Julia Holter und ihr Instrument sind nahe am Bühnenrand platziert; ihre Augen schauen zumeist nach oben und fixieren einen Punkt in der Mitte des Saals. Die Bühne ist nur spärlich beleuchtet und wenn die Scheinwerfer einmal stärker werden, sind sie eher auf die Band als auf Julia Holter gerichtet. Zwischen ihren Reisen zu musikalischen Fantasiedestinationen hat die Musik von Julia Holter durchaus auch ihre tanzbaren Momente und man ertappt sich dabei, wie man mit dem Fuss auf den Boden tippt.
“Du erwartest viel von deinen Zuhörern. Wie findest du dein Publikum mit einer Musik, die komplex tönt und nicht einfach zu konsumieren ist?”, frage ich Julia Holter.
“Ich weiss nicht, wie komplex meine Musik ist”, antwortet sie. “Es ist nicht so, dass ich mir sage ‘ich will, dass diese Platte kompliziert ist’. Um ehrlich zu sein: Viele Leute, die ich kenne und die nicht-kommerzielle Musik machen, denken nicht an ihr Publikum, wenn sie komponieren. Am Ende machst du das, was du willst, und das ist eigentlich auch gerade alles, was du tun kannst. Es ist nicht so, dass meine Musik für kein Publikum ist, sie ist nur nicht für ein bestimmtes Publikum gedacht.”
“Könntest du auch einen Nummer-eins-Hit schreiben?”
Julia Holter ist leicht irritiert, als sie diese Frage hört. “Einen Hit? Ich weiss nicht”, sagt sie. “Ich habe noch nie daran gedacht, so etwas zu tun. Ich weiss dass Leute, die für die Hitparade schreiben, strategisch vorgehen und das mache ich ganz und gar nicht. Aber es wäre cool, einen Hit zu haben. Ich wäre nicht dagegen.”
Kürzlich, erzähle ich Julia Holter, traf ich einen Musiker, der mir sagte, dass er beim Komponieren immer nach einem Widerstand sucht. Wenn es zu einfach wird, interessiert es ihn nicht mehr, weil er über den Widerstand seine Musik weiterentwickeln will. Was denkt sie darüber? Spürt sie den Widerstand, wenn sie an ihrer Musik arbeitet?
“Ich würde das nicht Widerstand nennen”, antwortet sie. “Es ist mehr wie eine Herausforderung. Für mich fühlt sich das Komponieren weniger als Konflikt an, als es das Wort Widerstand andeutet. Für mich ist es eher das Öffnen eines neuen Wegs; ich befreie mich selber und finde neue Ausdrucksformen, ja sogar neue neuronale Verknüpfungen. Ich will wissen, was möglich ist, und ich entdecke ein Geheimnis und Dinge, die ich vorher noch nie gehört hatte.”
In diesem Sinn hat Julia Holter auch einen sehr spielerischen Charakter. Sie hat Spass an dem, was sie so gewandt macht: Klänge kreieren und Musik machen. Fast aus dem Nichts heraus kann sie Songzeilen hervorzaubern wie “I si I tho I sex I jeu I nice I hey I ay I show I fun I tall” (“Les jeux to you“). Sie benutzt diese Wörter nicht, weil sie für sich selber sehr viel Sinn machen. Sondern auch, weil sie gut tönen. Ist sich Julia Holter bewusst, welche Wirkung ihre Alben und ihre Konzerte auf ihr Publikum haben? Zu begreifen was ihre Kunst bei vielen Personen überall auf der Welt auslöst – und diese Erkenntnis zu verinnerlichen – sollte Treibstoff genug sein, um Julia Holters Suche nach der eigenen inneren Stärke zu befeuern. Von Julia Shammas Holter haben wir bei weitem noch nicht das letzte Wort gehört.
GUESTLIST: Kurt Werren lebt in Bern, der Libanon ist seine zweite Heimat. Er hat hat ein Flair für fruchtbare Begegnungen und ein Näschen für spannende Frauen und Männer sowie gute Musik. Und er betreibt seit Kurzem seinen englischsprachigen Blog The Open Enso.
(Bilder: May Arida)