Erst eine Anmerkung: Das Vibez sorgte in den Wochen vor seiner Premiere für einige skurrile, seltsame und fragwürdige Schlagzeilen. Wir waren trotzdem da.
Neue Festivals haben es in dem kleinen, hart umkämpften Schweizer Markt immer schwer. Neid, Missgunst und “was weiss der, was ich nicht weiss?” kommen dazu. Seit dem Ende des Vibez Festivals vor einer Woche sind bereits wieder neue Informationen dazugekommen, da dessen “Kopf”, Daniel Meili, sich nach dem unglücklichen Watson-Interview nun auch im 20 Minuten geäussert hat. Unter anderem zu den Fragen, die eigentlich zuerst in diesem Text hier gestanden wären. (Anm. der Redaktion: Wir haben gestreikt, darum kein Primeur, sorry Role). Meili und seine beiden Mitgründer sind seit Frühling 2019 nicht mehr Mitglieder beim Veranstalter Seamotion. Auf 20 Minuten Online wird Meili mit “Ich muss noch viele unbeantwortete Fragen klären. Ich kann mir nicht erklären, wie es so weit kommen konnte” zitiert. Er distanziert sich im Bericht auch vom Festival und seinen Aktivitäten. Die jetzigen Geschäftsführer haben sich nicht geäussert, und ob sie das noch tun werden, bleibt offen.
Es bleibt also spannend!

Besucher hatte es wenig am “Hip-Hop und Urban”-Freitag, dem zweiten Tag des Vibez Festivals. Zumindest als wir, also ich, Marcel, der Fotograf und unser Bruder Daniel als Gast auf dem Gelände eingetroffen sind. Der bewölkte Himmel und der Wind passten zum umstrittenen Festival. Würde nun ein Sturm das Gelände zerstören und wir alle wieder nachhause gehen müssen, wie wir es im Dokumentarfilm “Fyre” gesehen hatten? Natürlich nicht. Im Gegensatz zum Wetter waren alle Festivalhelfer, von Security über Busfahrer bis zu den Personen an den Ladestationen für den Festivalbändel, freundlich, hilfsbereit und sympathisch. Der Bändel mit Chip zum bargeldlos Zahlen wird übrigens später nochmals erwähnt.
Leider verpassten wir den Lokalhelden Nemo, somit war unser erstes Konzert Loco Escrito auf der Tent-Stage. Bereits nach den ersten Tönen war klar, dass alle Vorurteile gegenüber seiner Musik ungerechtfertigt sind. Wer eine lieblose Karaoke-Show erwartet hat (und das taten alle, die bei dieser Musik vorgängig die Nasen gerümpft hatten) wurde eines Besseren belehrt: Der Mann ist ein grossartiger Entertainer mit einer erstklassigen Liveband im Rücken, die seinem Latino-Pop Wucht und Dringlichkeit verliehen. Das Publikum sang jeden Song mit und die Stimmung war so gut wie bei einem anderen Open Air beim Headliner.

Gashi, Rapper aus Brooklyn, spielte anschliessend auf der Hauptbühne. Wieder das Gleiche: Es waren keine 10’000 Fans dort, aber jeder Besucher machte mit. Als Gashi beim zweiten Song von der Bühne in das Publikum stieg, gab es kein Halten mehr. Die Security mag nervös gewesen sein, aber Gashi war offensichtlich gut gelaunt und die Zuhörer konnten ihr Glück kaum fassen. Musikalisch konnte er leider nicht überzeugen. Der mitgereiste DJ tat nicht mehr, als Lieder zu wechseln – ohne wirkliches DJing zu betreiben. Der Grossteil der Stimme kam ab Band und Gashi brauchte das Mikrofon in erster Linie, um die Leute zu animieren und anzufeuern (als ob das nötig gewesen wäre!). Wer jetzt darüber empört ist, soll am nächsten Offspring-Konzert genauer hinhören. Kaschiert wurde gar nichts und in der zweiten Hälfte des Konzertes lief Queens “We will Rock you” und Oasis’ “Wonderwall” (danke!) komplett ab Band. Zu schade, stand ich in diesem Moment nicht vorne, denn zu gerne möchte ich wissen, was Gashi in dieser Zeit getan hat.

Beim Zwischenstopp im Essenszelt nach Gashis Auftritt traten die ersten Schwierigkeiten mit dem bargeldlosen Zahlen auf. Wenn dann nicht klar ist, wie viel Geld auf dem Chip noch drauf ist, ist der Entscheid, nur einen Chip für drei Personen aufzuladen, ein Fehler (oder Notizen machen). Mit der Vibez-App wäre eine Übersicht vielleicht möglich gewesen, aber auf Grund der Festivalvorgeschichte wollte von uns niemand die App runterladen. Damit wir zu den Bratwürsten (schmeckten gut!) noch einen Teller Pommes bestellen konnten, mussten die Würste zusammengelegt und das Depot wieder auf den Chip geladen werden. Das bargeldlose Zahlen ist wirklich nur dann sinnvoll, wenn du bereit bist, schon zu Beginn einen grösseren Betrag aufzuladen. Auch im Essenszelt waren die Helfer und Angestellten super freundlich und hilfsbereit und vor allem geduldig. Durch das kleine Intermezzo verpassten wir leider die deutsche Rap-Ikone Kool Savas.
Mit Booba spielte der einzige frankophone Künstler in Biel. In Anbetracht der geografischen Lage wären mehr Engagements von Künstlern aus Frankreich oder der Westschweiz sinnvoll gewesen. Auch hier war das mittlerweile etwas zahlreichere Publikum begeistert dabei. Musikalisch konnte uns Booba nicht überzeugen. Das penetrante Autotune machte die Musik monoton und langweilig. Ein Tiefpunkt, der nicht wie bei Gashi durch Charme und Krawall wettgemacht wurde.

Mit grosser Spannung wurde von uns auch der Auftritt von Farid Bang und Kollegah erwartet. Das sind die beiden deutschen Rapper, die mit ihren unfassbar dummen Textzeilen den “Echo” zerstörten und Helene Fischer zu ihrem (bis heute einzigen) politischen Statement zwangen. Zu erwähnen gibt es nur die Tatsache, dass der Bieler Stadtrat den Auftritt im Vorfeld verhindern wollte, aber keine rechtliche Grundlage fand. Und dass – beinahe zeitgleich mit seinem Auftritt – bei Kollegahs Shisha Bar in Düsseldorf eine Razzia stattfand bei der “die Beamten drei bis vier Kilogramm unversteuerten Shisha-Tabak” (20Min.ch) sicherstellten.
Zum Schluss folgte mit Sean Paul der Headliner von diesem Tag, von dessen Set wir leider wegen der Heimfahrt nur den Anfang mitbekommen haben.

Fazit für den Freitag: Die Stimmung vor Ort war grossartig dank Besuchern, die sich auf jeden Act freuten und ihre Begeisterung auch zeigten. Ich war eigentlich in der Erwartung da, dass irgendetwas Schockierendes passieren würde. Aber das Zielpublikum, das nicht den üblichen Festivalgängern entsprach, machte den Abend zu einem Erfolg. Das grosse Glück von Vibez waren die Fans vor Ort, die ihre Lieblingsmusiker sehen wollten und sich von der (von Vibez selbstverschuldeten) schlechten Presse nicht davon abhalten liessen. Dass durch das katastrophale Festivalmanagement einige (wie viele genau werden wir wohl nie wissen, geschweige denn, wie viele bezahlt haben) Besucher ihre Helden gratis sehen konnten, gibt dem ganzen einen weiteren Pluspunkt. Das elektronische Bezahlsystem funktionierte, auch wenn Sachen wie Datenschutz usw überhaupt nicht geklärt sind. Aber als bei mir zwanzig Franken vom Chip “verschwanden”, konnte das eine Helferin unkompliziert in Ordnung bringen. Die Besucher und die Helfer standen im krassen Kontrast zu der undurchsichtigen Vibez-Organisation. So werden denen, die da waren, und den nichtanwesenden Lesern von Vibez-Artikeln immer zwei unterschiedliche Festivals in Erinnerung bleiben.

Wie das Festival finanziert wurde und von wo das Geld kam, ist immer noch nicht klar. Wie der Totalausfall mit den Emirates zustande gekommen ist, weiss bis auf die Involvierten auch niemand. Was hat der Scheich eigentlich damit zu tun? Darüber lässt sich nur rätseln. Was nach einem schlechten Mafiafilm klingt, hat die hiesige Festivalszene um ein paar Anekdoten reicher gemacht. Auch ist es ein Beispiel dafür, dass Hashtags, flippige Werbung, gekaufte Influencer, Bilder mit einem Scheich oder krude Beweisdokumente das Milchbüechli eben nicht ersetzen können. Das Vibez steht mit verpeiltem Grössenwahn auf einer Stufe mit der Kleingeistigkeit, die in der Branche teilweise noch immer vorhanden ist.
Vielleicht hat der Initiator Daniel Meili die Zauberformel für das immer schwierigere Geschäft in der Festivalbranche gefunden. Wir würden es ihm gönnen. Seine ehemaligen Geschäftspartner sollten ihm zumindest eine Ansichtskarte aus Dubai senden. Die Kids und das Vibez haben es auf jeden Fall verdient.
GUESTLIST: Roland Glenn Frey hat im Vorfeld zum Festival Rockette Dominique mit allen gefundenen Infos zum Vibez bombardiert. Darum schickte sie ihn kurzerhand ans Festival, damit er sich auch ein Bild vor Ort machen kann. Es wurde ein Familienausflug der Gebrüder Frey. Roland feiert mit diesem Text Premiere in der schriftlichen Journalie, ansonsten ist er Moderator bei Radiologisch.ch.
Bilder: Marcel Frey